Skip to main content

MindWalk 23/32 – Tag 9 – George de Gotteron

Forellen in einem Zuchtbecken scheinen ihm einen Eintrag wert zu sein. Was fasziniert ihn daran? Die Kraft und der Wille, gegen den Strom zu schwimmen? Die Kräfte überhaupt, die des Wassers, das nach unten drängt und die des Lebens, das nach oben kämpft? Oder ist es das Blitzen der Leiber in der Sonne, der Fisch, in der Luft, wo er eigentlich “gar nicht hingehört“ und dazu das Rauschen des Wassers? Wissen können wir es nicht, nur ahnen.

Er scheint zudem eines erstes Mal “aus der Zeit gefallen“. Die herkömmliche Zeitmessung der Tage hat sich für ihn aufgelöst. Es wirkt, als sei er in seinem Jetzt in einen fliessenden Raum geraten. Wie er dann berichtet vom Ankommen in der Stadt, der Stadt, die man so und so schreiben kann, auf die er sich zudem freut, da fühlt er sich sogar ins Mittelalter zurück versetzt. Er selber ist unterwegs in “the Middle Ages”. Weil er sich im Vorfeld intensiv mit dieser Zeitepoche befasst hatte – auch was das Pilgern damals geheissen hat -, schafft ihm nun Bilder, Wissen, einen Zustand, Emotionen und eine Dramaturgie, dank derer er sich selber in diese Zeit zurück versetzen kann. 

Weiter scheint sein Auge geschärft, gerichtet seine Wahrnehmung auf Farben, Licht und Schatten.

Tag 9, 05. 05. 88, George de Gotten, später Fribourg

Heute muss der 5. Mai sein. Ich kann’s auf dem Kassabon sehen – denn ich selber habe die Zeit verloren.

Das Wetter ist so schön und warm wie noch nie. Hier in der Gorge de Gotteron reizte es mich, ins Wasser zu gehen.

Die Nacht war ruhig. Nur einmal raschelte ein Tier an meinem Esssack. Ich erwachte, schlug auf die Bank und hörte darauf das Tier wegrennen. Manchmal wachte ich auf und hoffte immer, es werde bald hell. Ich fühlte mich zum Weitergehen bereit. Als dann aber die Sonne kam, war es mir plötzlich wohl in meinem Sack und ich nickte mehrmals wieder ein.

In der Forellenzucht versuchten die Fische, durch Sprünge in den Kennel zu gelangen, der das Becken mit Wasser speist. Hie und da erreicht einer die Höhe, aber der Schwall war zu stark. Sie wurden zurückgestossen. Schön, das Zappeln der glänzenden Leiber zu sehen.

Fribourg

Ich sitze im Treppenhaus und warte auf Felsigers*. Habe gedacht, so gegen sechs würde zumindest einer von beiden da sein. Tote Hose. Auch Barbara** war nicht zu treffen. Alle, obwohl etwa 6 Personen da wohnen, sind ausgeflogen. 

Das aber tut keinen Abbruch. Die Sonne lockert mich auf und in der Stadt geht mancher lachen oder pfeifend. Alles glänzt und ist auf den Beinen. Die Vögel pfeifen trotz Autolärm und –Gestank.

Die Kathedrale, von Autos, Lärm und Gestank umspült, leidet aussen sehr. Die Figuren bröckeln und St. Jakob hat sogar seinen Stab verloren. Das Gesicht ist wie von Pech überzogen. Auch im Innern sieht es „schitter“ aus. Die Wände und Stützbogen zeigen weisse Kalkschlieren, aber die Renovation ist im Gang. Ich danke, wenn sie vorne fertig sind, können sie gleich wieder hinten beginnen.

Beeindruckt hat mich ein Seitenraum, beim Eingang rechts. Zwei grosse Glasfenster halten das Steingeviert in einem düsteren Blau. Beim Eintreten dachte ich erst an ein UV-Licht. Da stehen steinerne Personen um einen toten Jesus, alle in Lebensgrösse. Vor dem Steinsarkophag liegen und sitzen schlafend drei Soldaten. Die Gemeinschaft ist durchmisch von biblischen und kirchlichen Personen – Maria, gestützt durch einen Mann, zwei Patres oder Priester… Sie scheinen in diesem fahlen Licht fast lebendig und die roten Rosen auf der Brust des Toten geben dem Bild eine noch tiefere Trauer und Empfindung. In mir stieg beim Anblick das Gefühl auf: Mensch, wie dieser Tod, diese Geschichte über Jahrhunderte hinweg immer wieder lebendig und echt nachempfunden worden ist. Gut, das „echt“ müsste ich einklammern, denn wir hauen in unserem Nachvollziehen enorm viel daneben.

Die Glasfenster – Jugendstil – sind zum Staunen. Aus der Farbenpracht und Formenvielfalt erkannte ich erst nach einiger Zeit des Betrachtens ein reales Bild. Einzelheiten aufzudecken war spannend. Erstaunt war ich über die vielen weltlichen Szenen – den Rütlischwur, eine Bannerniederlegung und selbst die Anbetung durch die Könige wirkte in dieser Farbenfülle befremdend. – Im Chor beteten zwei alte Herren in Talaren eine Litanei, ganz für sich, nachdem der Organist mit seinem Mädchenchor die Probe beendet hatte.

Wie ich aus der Gorge de Gotteron heraustrat, tat sich vor mir die Altstadt auf, überthront durch den Turm der Kathedrale. Ich fand mich ins Mittelalter zurückversetzt. Ich sah mich zusammen mit anderen durch die Strassen ziehen, ein Pilgerlied singen und mich schon auf den Wein und die Geselligkeit freuend. Unsere Ledersohlen tappten auf dem Kopfsteinpflaster und neugierige Blicke, abschätzige und erfreute, begegneten uns. Da beschloss ich, länger hier zu bleiben. 

Konditoreien haben im Moment eine magische Anziehung auf mich. Ich könnte süsses Gebäck essen in rauen Mengen. Einige Annehmlichkeiten gönn ich mir, aber irgendwann ist auch genug.

*Tinu Felsig ist ein weiterer Kollege aus der Zeit seiner Lehrerausbildung. Tinu studiert in Fribourg Heilpädagogik und lebt in einer Sechser-WG

**Barbara: Name nicht geändert. Es ist nicht mehr klar, wer damit gemeint ist

“Skizze aus dem Tagebuch”, Landschaft über eine Kirchturmspitze hinweg