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MindWalk 23/32 – Tag 9/2 – Fribourg

Heute schreibt er „Lebendig sein“ – zweimal hintereinander. Darum könnte es ihm also auf diesem Weg gehen, auch gehen. Er scheint nach einer Qualität von Leben zu suchen, nach einem Sein in Achtsamkeit, wie man das heute nennen würde, nach einem tiefen und die Eindrücke und Gedanken und Wahrnehmungen des Moments feiernden Zustands.

In diesem Beitrag “reibt” er sich an den Leben und den Werken von Künstlern. Er fahndet, betrachtet, benennt, vergleicht, positioniert, – ja wertet auch. Und er findet dabei auch Referenzen und Verbindungen zu seinem Gehen und seinem Unterwegssein; Dank Tinguely zum Beispiel „findet er Anstoss“, diese Worte benutz er selber, zu jenem Raum, aus dem alles kommt und wohin alles geht, zum „Nichts“.

Wenn er diese Zeilen schreibt, kann er noch nicht wissen, dass er Tinguely morgen begegnen wird – und vielen anderen KünstlerInnen, die für sich, jede und jeder in seiner/ihrer Form den Zugang zu diesem magischen Punkt der Leere immer wieder suchen – um dort „DIE Idee zu  packen“, um zum wahren Kern vorzudringen.      

Tag 10, 06. 05. 88, Fribourg,

Ausruhen in Fribourg. Die Stadt zeigt sich gut: Alte Viertel, die gut bewohnt und eben nicht wie an anderen Orten mit Geschäften und Büros vollgestopft sind, viele kleine Beizen, Kirchen, der Floh- und Gemüsemarkt und stille Gassen sind anzutreffen.

Holte am Morgen Gipfeli – wobei sie lange noch keine Konkurrenz für jene von Bachmann* sind – und wir assen fürstlich. Auf dem Markt kauften Tinu und Adriana** für das morgige Muttertagsmahl ein und setzten sich ab. Ich zeichnete erst und besuchte dann das Gasthaus der schillernden Figur „le boucher Corpaato“. An den Wänden kleben seine fleischigen Bilder, von der Decke hängt er selber vielfach porträtiert, z.B. in weisser Weste reitend, auf dem Kopf ein Tableau mit einer – vielleicht – Kuhkeule balancierend. Er selber in der Küche, Würste greifend, mit überhängendem Bauch, markantem Gesichtszug und einer abgeschlappten Kochmütze. Er winkte mir zu, wie einem alten Kollegen. In einer Ecke hängt eingerahmt ein Brief der PTT Direktion. Antwort auf einen Briefmarkenvorschlag zum Jubiläum „100 Jahre Metzgermeisterverband“ – ich glaube, malen kann der gute Mann nicht wirklich, aber er ist originell. In einer Stube neben der Beiz hat er ein Gemälde angefangen. Kopie einer Fotografie figürlich. Von mir aus völlig daneben – weder realistisch noch künstlerischer Genuss. Am besten gelingen so, so scheint mir, nacktes Fleisch, halbe Sauen und reihenweise Schinken.

In der Beiz ein Buch über Tinguely überflogen. Macht mir Eindruck und sehe eine völlig neue Welt. Schön, wie er auf Fragen, die ihm gestellt werden, Antwort gib. „Seit 1945 suchen wir nicht mehr nach bleibenden Werten“, „Ein Mann ohne Arbeit ist wie eine Wurst ohne Haut“…

Mehrmals schreibt er vom Leersein, vom Nichtswollen, vom Nichts. Da fühlte ich Anstoss. Weshalb auch jetzt auf der Reise immer dieses Leistungsdenken – Kilometer, Kilometer. Ich kann doch verweilen, ausruhen, zeichnen und neue Ideen packen, verwirklichen – lebendig sein, LEBENDIG SEIN.

In der unteren Altstadt sah ich einen gezeichneten Kreuzweg von Teddy Aebi – sehr beeindruckend – Tusche, verzerrter Realismus mit den hiesigen Gegebenheiten, ungefähr Mittelalter, gezeichnet 1968.Morgen bin ich alleine hier. Wenn das Wetter es zulässt, zeichne ich Aquarell in der Stadt, dann möchte ich noch Karten zeichnen (Muttertag), meine Route wählen, Briefe schreiben, Rucksack packen, Paket binden und schreiben – welch ein Programm.

*Name nicht geändert. Ist der Name der Bäckerei mit Café, nahe seinem alten Wohnsitz. Dieser Ort war ihm in seinem damaligen Leben sowohl in der Qualität der Backwaren als auch in der Empathie der Bedienung ein wichtiger Ankerpunkt. 

**Tinu’s Freundin

Foto: “Skizze aus dem Tagebuch”, gezeichnet im Historischen Museum Fribourg, Statue des St. Jakobus, aus der 2. Hälfte 15. Jahrhunderts