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MindWalk 23/32 – Tag 29, Ausruhen I in Le Puy

Er ist da! Angekommen…

Interessant kann jetzt sein, zu sehen, was das für ihn heisst – ankommen. Was macht er daraus: Die Zeit der Entbehrung ist vorbei. Die sich selber aufgetragene Aufgabe ist geschafft. Die Erlebnisse und die Erfahrungen sind “in der Tasche”. Und nun, was jetzt?

Fällt es dir persönlich leicht, anzukommen? Wann gelingt es dir? Was hilft dabei? Und welches ist dein schönstes Erlebnis, wenn du an ein eigenes “Ankommen” denkst? Warum?

Meines Erachtens wird dem ANKOMMEN im Gegensatz zum LOSGEHEN oft zu wenig Beachtung geschenkt, zu wenig Bedeutung beigemessen. Dabei gehören sie zusammen, wie oben und unten, wie weiss und schwarz, wie Leben und Sterben, … Losgehen und Ankommen – Keines ohne das Andere.

Ich ahne gar, dass wer das Ankommen nicht stimmig leben kann, Mühe hat, loszugehen. Das hiesse aber nicht zwingend, dass so eine Person nicht “losgehen könnte” – vielleicht gar im Gegenteil. So ein Mensch könnte dann sogar besonders viel unterwegs sein, würde beständig “losgehen”, kaum wäre er angekommen. Er nähme sich aber nicht den Raum für das Ankommen – vielleicht weil ihm die Erfahrung fehlt, die frühe Erfahrung, dass Ankommen Ruhe und Geborgenheit bedeutet und jener Raum ist, in dem sich die Energie und die Richtung für das neu Ziel gebiert. – Oder aber so eine Person bräche gar nicht mehr auf, würde verharren, würde lieber alle Wiederwertigkeiten aushalten, als dass sie sich noch einmal aufmachen würde und sich dieser schlimmen Erfahrung aussetzte, “auf der Spitze des Berges anzulangen” und dabei nicht Mattheit und Glück, nicht Zufriedenheit und Leere, nicht Lob und Ruhe geschenkt zu bekommen.

Während meiner Zeit des Erinnerungsschreibens fielen mir zwei Sätze zu, die ich sehr mag:

Ankommen heisst, das Ziel zu verlieren.

Wirklich ankommen meint, die ursprünglichen Vorstellungen vom Ziel mit den Wirklichkeiten tauschen.

So, hier nun aber rückt endlich der Text aus dem Tagebuch ins Zentrum!

Zum Verständnis noch: Die Stadt Le Puy-en-Velay ist eingebettet in eine alte Vulkanlandschaft, die sich durch schroffe und in ihrer Art wilde und wirre Täler zeigt, aus denen Kegel aufragen, ehemalige Vulkanschlote. Auf einem solchen “Güpf” steht eine in Rotbraun gehaltene Marienstatue, die bestiegen werden kann. Gegossen wurde sie vor gut zweihundert Jahren, aus den Restbeständen napoleonischer Kanonen.

Donnerstag

Äusserst eigentümlich ist es, im Hals der Maria zu sitzen und Bitten und Namen zu lesen, geschrieben unter riesigen Schrauben und Muttern, die sie zusammenhalten. Weiss ist sie gemalt innen. Erst über eine steinerne, danach über eine metallene Wendeltreppe, gewickelt wie um ihr Rückgrat, erklimmt man sie. Gucklöcker erlauben einem den Ausblick in die Vulkangegend und auf das Wirrwarr der Dächer.

Viele Bitten sind an “Notre Dame de Puy – la Vierge” gerichtet. Obwohl ich nicht mit einem besonderen Wunsch hierher gekommen bin, und obwohl meine Marienbeziehung – wie im Gegensatz z.B. zu Beni* – gering ist, so pocht doch mein Herz nervöser in dieser Statue, gegossen aus 213 Kanonen – oh, wie gut. Die ganze Überzeugung, die darin, wie auch im Kloster, im Kreuzgang und in den Gemälden steckt, die fasziniert mich.

Die Stadt überfordert mich. Dank meiner Unterkunft ist’s passabel, denn da habe ich einen Rückzugsort, der abgeschlossen ist. Es gibt so vieles, so schönes zu sehen, dass ich es nicht schaffe, es respektabel aufzunehmen. Vor der “Notre Dame” nahm ich mitschleichend an einer Führung teil durch den Kreuzgang und den “Tresor”. Ich verstand wenig. Um aber die Geschichte der Kathedrale zu verstehen und somit den Bau, da würde ich Zeit brauchen, viel Zeit. So gehe ich mehr wie ein Voyeur durch die Gegend.

Das Aquarellieren wurde durch Himmelsaqua unterbunden. Vielleicht mache ich morgen weiter.

Der Ausgang gestern mit dem Vulkanologen war unterhaltsam. Wir vermissten aber beide das “Nachtleben”. Die Stadt war beinahe tot. Nur eine junge Frau, die “Gattin Bob Marley’s”, flippte mit ihren Kolleginnen auf der Strasse und in den Bars, kreischte und jauchzte nach reichlichem Alkoholgenuss und verliess dann die Bühne per Auto mit Kollegen. So brachte sie uns doch noch dazu, zu spät in der Jugi anzulangen, wo wir vor verschlossene Tür vom Chef einen sanften Rüffel einfingen.

Vom Weg nach Santiago habe ich einen guten Viertel zurückgelegt. Ob ich den Rest auch noch zu Fuss mache?

Eingeklebte Karte der verschiedenen GR durch Frankreich,
u. a. GR 41 Le Puy – Moissac und St.-Jean-Pied-de-Port, orange nachgezeichnet,
die Route von Le Puy bis Moissac

Und jetzt zu mir

Ich ziehe mir morgen die Wanderschuhe an. J. G. Seume** gleich mache ich mich auf den Weg: “Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen.” Wenngleich ich in Aarau starte, ich nicht so weit gehen werde, auch nicht so lang und nicht so ausladend – aber ich gehe.

Gehen hilft im Leben oft, plattentektonische Verschiebungen zu integrieren.

In meinem Leben überbrückte ich Schnittstellen oft mit “Gehen”. In einer gewissen Art “klebte” ich sie, als ob ich zwei Platten mit einer Fuge “gehend” verbunden hätte. Als Sohn eines Fliesenlegers kann ich mir das ja so vorstellen: Gehen als Fuge. 🙂

Ich denke, ich gestalte mir mein Abschliessen dieses Blogs mit wirklichem Gehen – auf dass sich Kreise schliessen. Mein primäres Ziel ist es jetzt, selber wieder auf die Sohle zu gehen. Ankommen möchte ich am Dienstagabend in Einsiedeln. – Bis zum Donnerstag lebt der Blog noch weiter, vielleicht auch mit Eindrücken von meinem aktuellen Gang.

Die Schuhe binden, den Rucksack schultern, den Hut auf den Kopf setzen und den Stock nehmen. Dann die Tür aufmachen, raus gehen und die Tür schliessen. Schlüssel rein, drehen und raus. Dann den Schwung in den Körper nehmen und gehen – den ersten Schritt machen, über die Türschwelle. Dann den zweiten, dann den dritten, den vierten, den fünften, sechsten, siebten… Gehen

*Studienkollege aus der Lehrerbildungszeit

**”In Grimme”, eigentlich “Grimma”, Sitz eines Verlagshauses in Dresden, startete Johann Gottfried Seume 1801 zu seinem “Spaziergang nach Syrakus”. Damals ging er von Deutschland aus via Prag, Wien, Triest, Venedig und Rom nach Neapel und Palermo, umrundete Sizilien und kam auf dem Rückweg über Mailand, Altdorf, Flüelen, Laufenburg und Basel nach Paris, um von dort Frankfurt zu besuchen und den Weg nach Hause fortzusetzen über Offenbach, Erfurt und Leipzig. – Dies ist der erste Satz aus seiner 294-seitigen Erzählung, unter anderem erschienen bei dtv, herausgegeben 1985 und kommentiert von Albert Meier