MindWalk 23/32 – Tag 28, Ankunft in Le Puy
Hier, der Tagebucheintrag zur letzten Nacht vor Le Puy…
Mittwoch, am Morgen
Ich habe den Tag erwachen sehen – ein Schauspiel, das zu beschreiben ich einen Tag brauchen würde.
Gott war mir gnädig und liess die schwarze Decke beängstigend wachsen, so dass ich beinahe aufgebrochen wäre, um ein Dach zu suchen. Aber die Grauen zogen am Mond vorbei und als ich aufwachte – es schläft sich erstaunlich gut im Ginster, ich war eingebettet – funkelte der Himmel über mir. Irgendwann beschloss ich nach längerem Zögern aufzustehen, um mit Hilfe der Sternenkarte die Bilder am Himmel zu finden.
Bald erhob sich am Horizont ein heller Streifen, der wuchs und breitete sich nach beiden Seiten aus, langsam kamen mir die feineren Sterne abhanden, irgendwo begann eine Lerche zu singen, schwieg aber bald wieder, weil sie doch noch zu früh war, und ich hörte nur wieder den Bach im Tal. Langsam zeigten sich die Hügelketten wie tödliche Riesenwürmer, der Osten rötete sich leicht und auf der gegenüberliegenden Erd- oder Himmelsseite trafen die beiden Bänder wieder aufeinander.
Über mir war es am dunkelsten, aber bald verloren auch da die Sterne den Wettstreit, die Vogelwelt erwachte in corpore, Matten begannen sich abzuzeichnen, der Ginster bekam langsam sein Gelb, ein Flugzeug pisste einen goldenen Faden über die Glut, erste Menschenstimmen brachten mir Klarheit, dass es noch andere gibt, die früh aufstehen (müssen) und nach längerem Harren, die Täler im Dunst hinter mir, erhob sich über eine schmale Wolkendecke die Scheibe, rot und bald blendend.
Vor dem Aufgang machte ich noch Aikido-Übungen – Atem, Torifune -, was mir ein tiefes Erwachen verschaffte.
Aber eben: In Worte fassen, ein solches Erlebnis, ist möglich, aber weitab nicht treffend.
Beim Abstieg verlor ich meinen “basilic”. Wie ich ihn suchte, fand ich ihn hängend in einem Rosenbusch, beinahe ohne Wurzeln und den Topf mit der Erde weiter unten im Bord. Kläglicher Anblick – ich weiss nicht, ob er überlebt.
Ich freue mich auf Le Puy.
Nun kennen wir zwei Texte, die erzählen von derselben Nacht, erlebt vom selben Menschen. Der eine Beitrag wurde 26 Jahre nach dem eigentlichen Erlebnis erinnert, der andere gleich wenige Stunden nach dem Ereignis.
Was erfährt man als LeserIn nun beim einen und was beim anderen Text? Was erkennet man, wenn man die beiden Erzählungen vergleicht? Was könnten wir schliessen aus den Unterschiedlichkeiten – sowohl den inhaltlichen als auch den sprachlichen? Und was könnte uns das alles grundsätzlich sagen, wie Erinnern funktioniert? Wenn Erlebtes in unterschiedlicher zeitlicher Distanz zum Originalereignis erinnert wird, was verschiebt sich da? Trotz dem tiefen und festen Willen zur Wahrheit und nichts anderem, als der Wahrheit?
Einen einzigen Punkt aus den Texten möchte ich hier aufgreifen – nämlich das “Flugzeug”. In beiden Texten taucht es auf.
In der Originalerzählung, entgegen der grossen Wichtigkeit im später verfassten Text, kommt es nur in einem einzigen Satz vor: “… ein Flugzeug pisste einen goldenen Faden über die Glut …“. Dieser Satz ist prägnant und man kann sich fragen, welches Denken der Schreibende mit diesen Worten transportieren will: Meint er es abschätzig? Will er einen Kontrast setzen zum sonst eher elegischen Beschreib der Naturvorgänge? Sucht er mit dem Verb “pissen”, das Flugzeug zur einer Art lebendigem Wesen zu machen, um es so in sein Bild von “mit Leben ist alles durchtränkt” einzugliedern? Liest sich darin eine Technikkritik? Oder verbirgt isch in diesem kurzen Satz vielleicht doch all das Denken und Sinnen, welches wir beschrieben bekommen im Text, der Jahre später niedergeschrieben wird?
Eine weitere Frage drängt sich mir noch auf: Beide Formate sind Erinnerungstexte – auch wenn jener aus dem Tagebuch sehr zeitnahe zum Erlebnis aufgezeichnet wurde. Und beide, obwohl im Grundtenor kongruent, erzählen sie etwas anderes. – Nun zur Frage: Liesse sich aus dieser Erkenntnis ableiten, dass “Erinnern”, “je zeitlich weiter entfernt” es vom eigentlichen Ereignis stattfindet, “es” sich das Erlebte zu dem macht, wofür es eingesetzt werden möchte, wofür es benötigt wird?
Und wenn dem so wäre, würde das wiederum hiessen, dass wir mit den eigenen Erinnerungen umgehen könnten – dass wir mit ihnen gar kreativ arbeiten könnten, also auch, um sie uns nutzen, als Hilfe, als Stärkung, als Energie – weil wir eben wissen, dass wenn “wir” es nicht tun, tut es eben “ein anderer Teil” in uns?
Und somit können wir überlegen, was das mit dem Gehen zu tun hat, wo im Thema “Mit Erinnerungen lebendig umgehen”, spielt das “Gehen” mit?
Die Gegend hier ist wunderbar!
Am Abend dann
Bin hier in “Le Puy”, schwitzend – dadurch spriesst das Ekzem – aber gut erhalten angekommen. Nahm vorher in der Loire noch ein reinigendes Bad und zeichnete. Jetzt aber bin ich geduscht und habe ein Zimmer mit Henry und Yann zusammen. Es tut gut, diese Ruhe, eine Art zu Hause zu haben. Für zwei Tage bleibe ich sicher und danach ziehe ich weiter Richtung “Conques”. – Das Telefonat mit der Zentralstrasse* war schön – an zwei Apparaten Zuhörer – aber auch teuer, ich konnte nicht alles bezahlen. Muss morgen wohl nochmals hingehen – und malen – und waschen.
Yea! Le Puy en Velay