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MindWalk 23/32 – Tag 30, Ausruhen II in Le Puy

Erst ohne weitere Worte.

Freitag

Habe heute einen häuslichen Tag. Ich schrieb und jetzt sitze ich im Kaffee bei Croissants und …

Draussen schüttet es schon seit gestern Abend und ich hoffe, bis morgen seien die grauen Wolken geleert. Auf heute Abend will ich kochen für Hendrik und Yaro*. Vorerst muss ich noch einkaufen. Was heisst wohl “Schweinsplätzli” in der hiesigen Sprache?

Zum ersten Mal streikt meine Verdauung. Ich ernähre mich wohl etwas unsorgfältig.

Eingeklebt: Broschüre “Le Puy en Velay”

Ich versuche zu überlegen, was der Monat meiner Reise, das Füllen dieses Buches, der ungefähr 500 km-Weg in mir bewirkt haben. Doch ich komme nirgends an. Zu stark bin ich drin.

Es kann ein Neubeginn sein. Das merkte ich beim Schreiben der Postkarten. Ich hatte leichte Mühe, Kontakt aufzunehmen, weil ich mich lösen will, auch von jenen Kollegen, die ich brauche. Ich suche eine Grenze zwischen “Altem”, das ich fallen lassen kann, damit Raum entsteht für Neues und dem, was aus meiner Vergangenheit Bestand haben soll. In welches Neuland ich endlich eingehe, ist mir nicht klar.

Frontfassade der Kathedrale von Le Puy

Trotz allem Loslassen freue ich mich auf die Post in Aumont-Aubrac, die für mich wie ein Draht in die alte Welt ist.

Besonders gespannt bin ich auf den Brief von Marianne.

Sein letzter Satz in diesem Tagebuch richtet sich an die Frau, die er in Stans kennenlernte Annrea. Wie man aus seinem nächsten Tagebuch erfahren kann, wird er ihr schreiben und sie fragen, ob sie ihm eines ihrer Tagebücher schickt. Sie wird es tun …

Auf Post freut er sich auch. Nach vier Wochen alleine unterwegs sein, vermisst er Kommunikation, Beziehung und Austausch. Da er sich aber bald auf dem GR 41 bewegen wird, hofft er, auf andere Gehende zu treffen, um mit denen einige Tage Weg zu teilen. Aber er wird alleine unterwegs sein und alleine bleiben, bis zur Spanische Grenze. Dies wissen kann er heute noch nicht, aber es wird sich so einstellen. Damit er dabei dann nicht untergeht, wird er in Moissac seine Art des Gehens ändern, ebenso die Route anpassen – er wird sie verlängern. Dies alles wird keine einfache Entscheidung sein, aber eine kluge und richtige.

Im Augenblick aber würde er gerne herausfinden, was mit ihm los ist, was der Weg mit ihm gemacht hat und wohin das alles führen wird. Aber er kann es nicht erkennen. Wie er selber schreibt, ist er “zu stark drin” im Prozess. Es fehlt ihm der Spiegel, die Distanz, ein bekannter Raum oder eine bekannte Situationen, die ihm aufzeigen würde, wie anders er hörte, sähe, dächte oder agierte – wie “neben den Schuhen er stehe” – oder “wie festen Boden er unter den Füssen gewonnen hat”.

Florian Werner** schreibt: “Gelangt man beim langen, einsamen Gehen, wie es das Klischee besagt, “zu sich selbst”? Lernt man sich also besser kennen, findet man sich oder sein “wahres Wesen” – oder verliert man sich vielmehr, wird man ein Nichts, ein Niemand, ein anonymes Trägermedium für die darübergeworfene Funktionskleidung? – Der französische Philosoph Ferédéric Gros () meint: Eher Letzteres. () Es gehe beim Wandern nicht darum, “sich von alten Entfremdungen zu befreien, um ein authentisches Ich zurückzuerobern, eine verlorene Identität”, schreibt er in Unterwegs. Eine kleine Philosophie des Gehens: “Beim Gehen entfliehen wir viermehr schon der Idee der Identität, der Versuchung, jemand zu sein, einen Namen zu haben und eine Geschichte.” Wenn wir mehrere Tage oder Wochen zu Fuss unterwegs sind, so Gros, dann lassen wir “nicht nur unseren Beruf, unsere Nachbarn, unsere Geschäfte, unsere Gewohnheiten, unsere Sorgen zurück. Sondern auch unsere vielschichtigen Identitäten, unsere Gesichter und unsere Masken.”

*Mit den beiden Herren teilt er in der Jugi ein Zimmer. Einer ist der “Vulkanologe”

**Der Weg des geringsten Widerstands – Ein Wanderbuch”, Florian Werner, erschienen bei Nagel & Kirche, 2018