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MindWalk 23/32 – Tag 22, In der Nähe von La Côte-St-André, «Halte St. Martin»

Wieder steht ein Jubiläum an, das dritte! Jetzt zu feiern, das wärs. Aber nicht nur der erste Kaffee am Morgen ist entsetzlich. Die Misere scheint sich ihm an die Fersen gehaftet zu haben. Am Abend gar wird er im Auto von einem rabiaten Pfarrer aus dem Dorf gebracht, als wäre er ein Aussätziger und irgendwo in der Pampa abgesetzt, wo er sich unversehens in “Warten auf Godot” wieder findet, Pozzo und Lucky gegenüber…

Donnerstag, am Morgen

Und wieder regnet es, aber für mich diesmal durch die Glastüre eines Bistrots zu betrachten, vor mir Croissants – oh, wozu die Vorfreude auf dieses Gebäck mich alles bringen kann!!! – und neben mir ein scheusslicher Kaffee. Er ist nur bekömmlich, wenn ich das Gipfeli darin tunke, dann aber verliert dieses an Qualität…

Die Nacht war hart und bis ich einschlief, lag ich lange wach, und wie ich die Augen nach einer ruhigen Zeit aufschlug, war der Himmel überzogen und es nieselte leicht. Ich presste mich an die Hauswand, drehte mich links, drehte mich rechts, meine Beine schmerzten – sie fühlten sich so schwer an und liessen sich in keiner Stellung wohlig platzieren. Am Morgen drückte die Sonne wieder durch, doch das war …

Als ich gestern in Charavines ankam, war ich wirklich genudelt. Bei einem Milchkaffee erholte ich mich und war mit nacktem Steinboden als Schlafplatz nicht zufrieden – jetzt hatte ich wenigstens Kies.

Fand gestern am Strassenrand einen toten Specht. Erstaunlich, dieser spitze, kräftige Schnabel, und dann die Zunge – dünn wie ein ausgestreckter, langer Regenwurm, in derselben Farbe und an der Zungenspitze einige Härchen. Erstaunlich auch, dass der bei der Arbeit keine Hirnerschütterung bekommt. – Scheuchte auch einen Fasan auf. Er gackerte exaltiert wie ein Huhn. 

Am Nachmittag

Vorgestern muss unterhalb St André-le-Gaz ein Gewitter getobt haben. Humusschichten wurden von den Äckern geschwemmt, so dass danach nur ein Steinfeld zu sehen war, Bäume lagen umgerissen, Wegborde rutschten ab und der Feldweg war zu einem Bachbett, teilweise bis 40 Zentimeter tief, ausgefressen.

Die Leute hier sind nicht besonders freundlich. Wenige grüssen, manche getrauen mich nicht einmal anzuschauen. Und dabei tut es mir so gut, wenn mal eine Lichthupe aufblitzt und aus einem Wagen mir einer zuwinkt – Sekundenbruchteile, die wirken. Gestern setzte ich mich unter ein Vordächlein bei einem Ziegenstall. Der Wachhabende musste mich gewittert haben, gab an und nach einer Zeit kam sein Herr um die Ecke. 

gehässig “Qu’est-ce que vous faites ici?”

“J’attends jusq’au fin de la pluie!”

“Mais seulement un petit moment!”

ich verstand nicht “Peut-être!”

gehässig “Mais seulement un petit moment! Et vous ne fumez pas!!”

Rot im Gesicht ging er ab, dampfend seine gelbe Zigarette im Mund. – Wo bleibt da die vielgepriesene französische LIBERTÉ? Überall sind Verbotsschilder und “Proprieté privé” und “passage interdit” und “le chien monte la garde” … Jedes Stück Land ist mit einem hohen Zaun geschützt und die Häuser sind mit Hecken und Gattern umrandet – eine widerliche Sache.

Il lui sera pardonné,

parce qu’elle a beaucoup aimé.  

Vielfach sind in den Kirchen biblische Sprüche notiert und dazu in Glas die Szenen gemalt oder ein Bild in Blei gehalten

Es schwebt mir vor, mit Sprache Stillleben zu schreiben, ohne irgendwelchen philosophischen Sinn, möglichst das bezeichnen, in klaren Bildern, was ich erlebe, erlebt habe – vielleicht gereimt.

Zum Beispiel: Der gestrige Trip auf der Suche nach einem Liegeplatz / Eine Ode an meine rote Hose oder an meinen Stock / Die “Herbergssuche” in Stans

Aber ich fühle mich behindert… (es folgt ein Versuch)


Am Abend kam ich beim stillen Wasser an
Zwei schmerzende Bänder über den Schultern
Die sich im Kreuz treffen
Dann enden an den Fussrändern

Aus den Häusern, dicht gedrängt, geh ich
Um einen Platz zu suchen, wo ich mich ruhen kann
Schleiche an bellenden Zäunen entlang
Zum Wald, dem nun rauschend Wasser lang

Gegen Abend

Heute Jubiläum und Tag der Bars – eine Stunde gehen, eine Stunde den Regen vorbeiziehen lassen. Und zudem – wie aussen, so auch innen…

In den Äckern, auf den Feldwegen und Strassen fliesst das Wasser. Einen solchen Neubach musste ich überqueren und bald hatten meine harten Sohlen ein Bad um sich. Als ich auf das gestern getrocknete Schuhwerk umstieg, merkte ich, dass sich mein “fromage frais” den Weg der Freiheit genommen hatte und sich im Rucksack längs und breit machte. Alles saftet und die Esswaren musste an Ort und Stelle verzehrt werden – direkt an einer Nationalstrasse mit Sicht auf sprühende Lastwagenreifen. – Jetzt gehe ich auf der D73 (pfui) La Côte St. André entgegen. Da gedenke ich, mir eine ruhige Nacht, trockenen Wäsche und einen gemütlichen Abend zu machen (konnte Papier wandeln). Anmerkung: Geld wechseln

Am Abend

Wie bin ich hierher geraten? Alle meine Träume von kaufen, ausgehen, trinken und essen sind verunmöglicht. Stattdessen bewege ich mich beinahe im Mittelalter in einer abseitige Herberge.

In La Côte St. André suchte ich eine billige Auberge. Ausser teuren Hotels – nur 2 – gabs nichts und man riet mir, den Pfarrer zu suchen, der habe Gratislogis. Ich fand nach dem Fragen in der Bar diesen Mann, bei dem ich mich nach dem curé erkundigte. Anstelle einer Antwort, fragte er zurück – Wieso? Woher? Wer? Ob ich nichts gescheiteres zu tun hätte? Was meine Eltern seien? Wohin? Seit wann? … Erst gab ich redlich Antwort, doch mit einem Mal machte er mich wütend. Nur, weil ich bei ihm oder eben dem Pfarrer um eine Herberge suchen würde, habe er noch kein Recht darauf, mich so zu behandeln. Mit der Fragerei machte er mich hässig. Da schaute er mich mit seinem einen Auge etwas schief an – das andere war belegt und tauge nicht mehr – und rief aus: “Hier, in diesem Haus, schläft mir seit den Geschichten von damals keiner mehr!” Dabei lief er rot an. Einige hätten sich damals als gutmütig ausgegeben und bestahlen ihn, liess er mich wissen.

Mit dem Auto führte er mich weg, aus der Stadt, weg von der Strasse zu einem Gehöft – für Schweizer Verhältnisse sehr verwahrlost.

Niemand war da. Ich dachte, irgendein hexenartiges Wesen müsse erscheinen. Aber da fuhr ein Auto vor, zwei Typen stiegen aus und der Wagen fuhr wieder weg – einer der beiden, klein, älter, mit grossem Schnauz und kantiger Nase, der andere gross, breit, um die Dreissig, “Schanzennase” und eine Tonsur wie KM Brandauer – sieht daher “nicht ganz gebacken” aus.

Und jetzt sitze ich auf einem Bett, der Grosse schnaubt schon regelmässig in der andere Ecke des Raumes und zwei Betten sind noch frei. Saubere Leintücher bekam ich – wobei das eine mehr ein Sieb ist -, Pommes-frites – selber in irgendwelchem alten Öl aus selbergeschälten, nicht gewaschenen und daher nach dem Enthäuten wieder braunen Kartoffeln gebacken -, gegessen mit Fleisch und Salat – dieser an einer undefinierbaren Sauce, wobei ein Teil davon auch schon sehr alt war. Zudem weiss ich inzwischen, dass ich die Uhr nicht berühren, zum Hund nicht hingehen, die Katze nicht rufen und den Rucksack nicht im Zimmer haben darf. Der Kleine, der Hausmeister, hat einen kleineren Komplex und schafft sich Achtung, indem er mit dem Hund und der Katze rabiat umgeht – und aber doch ihr einziger Liebling sein will. Der Grosse macht beim Spielchen mit und fragt jeden Blödsinn. Zusammen geben sie ein simples, einfältiges Duo ab. – Dies hier ist “Halte St. Martin”, die Offerte des Pfarrers nach seinem Frust. Paul, der kleine Schnauzbärtige, lebt hier und nimmt die “Leute der Strasse” für eine Nacht auf. Sonst macht er Gelegenheitsarbeit, jetzt zusammen mit dem Grossen. Eingerichtet ist das Haus gut – Kühlschrank, Telefon, Gasherd, Boiler und TV. Auch hier, der Schlafsaal ist schön gemacht, einfach.

Der freundliche Ton auf den Papier
täuscht über die rauhen Sitten vor Ort hinweg

Jetzt ist nichts mit Likör degustieren, alte Kirche aquarellieren und Museen anschauen!!! Dann halt morgen weiter auf der Sohle.

Die “Halte St. Martin”