MindWalk 23/32 – Tag 21, Apprieu
Vor sechs Jahren schrieb er, nachdem er den Schock der “verlorenen Erinnerung” soweit verdaut hatte und sich nun mit Hilfe der Karte orientiert, über den Gehenden von damals:
“Von Genf her bin ich also lange im Tal der Rhône gewandert. Nach der vierten Etappe knickt der Fluss dann nach Nordwesten weg. Ich blieb somit meiner Richtung nach Süden und Südwesten treu und tauchte so quasi unterhalb von Lyon und Vienne weg, um auf der Höhe von Roussillon, Chanas und Sablon noch einmal auf die Rohne zu treffen. Dort war sie dann um ein Stück weiter und breiter, ein Strom, wie wir ihn in der Schweiz so nicht kennen. Ich erinnerte mich noch schwach, oder meine es zumindest, dass das Überqueren der Rohne an dieser Stelle mir etwas bedeutete. Der nachfolgende Gang in die Berge war dann, als hätte ich eben den allerletzten Draht zur Schweiz hinter mir gelassen. Nicht einmal mehr Schweizer Wasser querte nun weiter meinen Weg. Auch die Dimensionen der Rohne, die inzwischen an der Stelle auch das Wasser der Saône mit sich trug, mache mir ein Bild, so dass ich mich inzwischen weit weg fühlte. Ich kenne das Wasser der Rotte, wie sie im Goms fliesst – aber hier war der Strom in einem solchen Masse angeschwollen, gewachsen, dass ich mich selber mit ihm in neuen Dimensionen fühlen musste.
Ich gehe davon aus, so denke ich heute zumindest, dass ich als Gehender mich in einem ebensolchen Masse gewachsen, erstarkt gefühlt haben musste – oder dass ich mich zumindest durch meine eigene Leistung in einem ähnlichen Verhältnis erweitert und befreit vorkommen musste – jedenfalls im Vergleich zu den Verhältnissen, aus denen ich eben kam.” Geschrieben am 22. November 2014
So, nun aber zum eigentlichen Tagebucheintrag von vor 32 Jahren. Der erzählt gar nichts von “erweitert” oder “bereit”.
Mittwoch, am Abend
Ich bin gerädert. Am Vorabend meines dritten Jubiläums. Nicht, dass es besonders weit war, eher verkehrt. Ich wollte unbedingt zum See, verpasse eine Abzweigung und machte somit einige Kilometer mehr. Doch angelangt am Lac du Paladru zeigt er mir doch noch keine gute Bleibe und die Nacht verspricht kalt, windig und nass zu werden. Zudem ist mein Geld bald zu Ende und ich muss bei einer Bank vorbei. Aber in diesen kleinen Dörfern gibt’s nichts zu wechseln.
Täglich aufwachen Im Schlafsack liegen und einen Tag vor sich haben Aufwachen an einem Ort, wo man noch nie war Kilometer hinter sich haben, Kilometer vor sich haben Im Schlafsack liegen und einfach sein, wo man noch nie war Dann um sich sehen und sehen, was man gestern sah, als man ankam Heute nun sehen, wie alles im Licht nun aussieht Überhaupt, immer alles zum ersten Mal sehen Einen Rucksack haben und einen Stock Und immer alles neu sehen Im Neuen alles sehen, immer Und täglich dasselbe tun Immer
Ja, eine wilde Odyssee. Ich sitze da vor einem, so hoffe ich, unbewohnten Haus, um mich das Gebell der Hunde, Schreie von weiss nicht wem und ohne Sicht (wie man an der Schrift wohl sieht). Es ist zehn Uhr vorbei, und zumindest ist der Himmel klar. Vom See ging ich weg, um einen Schlafplatz zu suchen, kam immer weiter in den Wald, an Fabriken vorbei, die die Bäche beschmutzen und langte nach 1 ½ Stunden in diesem Dorf an. Und es bleibt mir nichts anderes übriges, als zu bleiben, auch wenn es mir gespenstisch vorkommt und ich regen Respekt vor den Kläffern habe.