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MindWalk 23/32 – Tag 8/2

Jetzt tauchen sie auf in seinem Tagebuch: Die Frau, die Liebe, das Drama. Vivian heisst sie.  Er liest einen Brief von ihr. Hat er diesen mitgetragen von zuhause? Unterwegs wird er wohl kaum Post erhalten haben. Liest er den Brief jetzt zum ersten Mal? Trägt er ihn – sie mag ihn ihm vielleicht beim letzten Zusammensein übergeben haben,- schon die ganze Woche lang mit sich herum, ungeöffnet? Gut möglich: Jetzt, wo das Fernsein naht, öffnet er ihn, getraut er sich, ihn zu öffnen. Vielleicht weil jetzt genügend Distanz da ist, um dem Schmerzhaften die ertragbare Nähe geben zu können.
Und auch die Angst vor seinem eigenen Mut kommt wieder auf. Langsam spürt er, wie ihm in der Landschaft in kleinsten Verschiebungen das ihm Bekannte abhanden kommt. Noch reden die Leute zwar deutsch, aber er kann das Französische schon fast riechen. Und wenn er sich dann schlafen legt, irgendwo draussen im Dunkeln, potenzieren sich diese kleinen Zeichen der Veränderung und gebären Geister.

Tag 8, St. Ursen (Buechechäppeli), am Abend

Zum Glück brennt das Feuer. Sonst hätte ich wieder kaum ausstehbare Angst. Weshalb? Am meisten fürchte ich um mein Leben. Aber da gibt es doch so viele Situationen, wo es nichts zu fürchten gibt und dennoch fühle ich Angst. Oder ist es die Einsamkeit? Momentan fürchte ich mich vor der Zukunft. Immer weiter komme ich von dem mir Bekannten weg. Die Sprache kippt ins Gelernte und doch nicht Beherrschte, ich treffe Menschen an, deren Körper- und Zeichensprache ich nicht verstehe – so denke ich. Mein Kontakttrumpf und die beste Verteidigungswaffe sind handicapiert. Vor dem fürchte ich mich, obwohl ich gar nicht weiss, ob diese Punkte auch wirklich echte Schwierigkeiten ergeben werden. Also eine Art Vorfreude, nur ins Minus.

Inzwischen fürchte ich mich auch vor Zecken und darum habe ich Mühe, heute unter den Bäumen zu schlafen. Ich ziehe die Bank vor.

Weshalb ich nicht zeichne? Beim Gehen bin ich momentan extrem auf Leistung. Ich will Distanzen schaffen und während den Pausen kann ich mich nicht aufraffen – da will ich ruhen und etwas essen. Und zeichnen ist für mich immer noch anstrengend.

Jetzt lese ich den Brief von Vivi nochmals. Nein, «unsere Geschichte» ist nicht schiefgelaufen. Schief sind die Ebenen oder die Ebene auf der wir stehen – oder eben standen. Und das ist menschlich. Wo es gehapert hat, sind die klaren Meldungen, vielleicht auch die klaren Einsichten in das, was jeder fühlte und wollte oder will. Ich nehme mit, dass ich mich klarer ausdrücken muss, meine Forderungen stellen, auch wenn nach diplomatischer Sichtweise dies nicht «intelligent» erscheint. Zuviel auf das Gespür des anderen abstützen und denken: Sie wird’s wohl merken! – das bringt Leisetreten und Selbstbetrug.  Für mich die gute Seite: Ich weiss, dass ich lieben kann – mit all den Besitzansprüchen, dem Egoismus, der Eifersucht. Lange Zeit dachte ich mir, für mich wäre das nicht möglich – nicht mehr möglich.

Versöhnungsversuche brauchen wir nicht. Wir müssen Standpunkte haben, um von da aus aufeinander zugehen zu können oder eben stehen zu bleiben und zu dem ja sagen, wie oder was es eben ist. Solange sich unsere «Stellungen» zu dem, was jetzt ist, nicht verändern, d.h. ich dich ganz will und du bei Manuel bleibst, also für mich nur ein Viertel bleibt, so müssen wir JA sagen dazu. Und der Bauplatz unserer Liebe bleibt leer, Stangen stehen da vielleicht, aber wachsen – nein, wachsen soll dann nur das Unkraut da.

Heiligenbild: Maria, der Engel und der heilige Geist
«Maria, der Engel und der heilige Geist», Ort der Aufnahme nicht mehr bekannt