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MindWalk 23/32 – Tag 30B, Abschluss II

Dieser letzte Eintrag wird assoziativ und bunt – wie das Sammelsurium an Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen am Ende einer langen Wanderung.


Im 
Ziel liegt 
Das Eine, im
Tempo und Rhythmus das
Andere

Seit Sonntagnachmittag bin ich auf der Sohle. Von der Staffelegg aus wanderte ich nach Schinznachdorf. Dort nächtigte ich und kam am Folgetag über das Schloss Habsburg via Mülligen nach Mellingen. Nach einer Nacht im Löwen brachten mich Bus und Zug nach Rothenthurm


Den
Tag sehen
Wie eine Landschaft
 
Den
Tag begehen
Wie eine Landschaft

Heute ging ich von Rothenthurm her jenen Weg, von dem der Gehende vor 32 Jahren schrieb, nachdem er sich beim Überqueren der Haggenegg gottsjämmerlich verirrt hatte:

Was ich heute gegangen bin, hätte ich via Katzenstrick dreimal einfacher haben können. 

Auf der Strecke von Altmatt hinauf zum Katzenstrick wurde ich überrascht: Um diese Kilometer nicht pathetisch oder romantisch werden zu lassen – sie haben halt eben doch etwas Spezielles in sich – , nahm ich mir vor, über nichts nachzusinnen, mich in keine Emotion hinein zu manövrieren und über nichts zu grübeln. Ich beschwor mich: Du fühlst dich auch nicht besser, als wie es eben ist. In keiner Art gibst du diesem Gang etwas weihevolles. Es ist nichts aussergewöhnliches! Einfach gehen, sagte ich mir, im Jetzt sein – in dem, was gerade vorhanden ist. Jetzt.

Und schwupp – mit einem Mal öffnete sich mein Geist und druckreife Gedanken ploppten auf. Wie ich merke, dass da noch mehr “hinten dran ist”, dass da noch mehr “drückt”, halte ich an und notiere in Stichworten, was mir eben in den Kopf floss. Beim Weitergehen dann, schupp, rollt die nächste “Ladung” heran und wie selbstvergessen ergibt sich in Kürze ein grosses und starkes Gedankenbild, ein Ansatz einer Vision, so dass ich, wie ich erleichtert und perplex zugleich auf der Krete ankomme und mit dem ersten Blick ins Tal und auf Einsiedeln hinter schaue, ja darüber hinweg, sehe ich klein, nur in einem schmalen Spickel aufleuchtend, den Sihlsee. Und in mir – es fehlt mir irgendwie das treffende Verb dazu – “zischen” das Gefühl und die Erinnerung auf, wie er damals, nachdem er seine selber ergangenen zweitausend Kilometer Fussweg unter der Sohle hatte, zum ersten Mal das Meer sah.


Ein 
Schreibender im 
Jetzt betrachtet den
Gehenden von damals
Der schreib
end
Geht

Und weil es eben doch nicht leicht zu lassen ist, kommt auch der Gehende von damals nocheinmal zu Wort – mit einem Folgeeintrag aus dem “Livre d’Or”, dem Tagebuch 2:

Dann, gegen 13 Uhr, ging ich los, über gute Wege, fluchte wieder, wenn ich eine Abzweigung nicht bemerkte, weil ich abwesend war, und kam fast am Schnürchen – ausser dem Zeichnungshalt – hier an.

Ich habe ein ganzes, geheiztes Haus mit wunderbaren Zimmern für mich. Das ist sehr luxuriös. Eine heisse Dusche nahm ich und ich muss morgen nicht zeitig aufstehen, denn zu früh sollte ich nicht in Aumont-Aubrac sein. Sonst eile ich der Post vor aus.

In Le Puy kaufte ich mir noch einen Ring. Er ist aus Bronze und hat ein Blumenornament eingrafiert. Wenn ich in Santiago ankomme, bin ich reich… 


Der 
Im Heute
Nimmt jenen von damals
An der Hand
 
Der 
Von damals
Den gibt es nicht 
Er scheint nur auf -
Aber seine Hand

Fühlt sich warm an 

Bei so vielen Dingen in unserem Leben geht es um hohes Tempo. Gehen tut man langsam. Und ist damit das Radikalste, was man tun kann.*

Was jetzt? Ich bin angekommen, in Einsiedeln, im Hotel St. Joseph… Was jetzt?

Ich gehe nach draussen, rauf auf den Hügel hinter dem Kloster, auf den “Vogelhärd” und werde dort mit mir anstossen – und mit Euch – anstossen auf die spannende Reise im Blog, auf dich als MitgehleserIn und auf alle, die mich bis heute begleitet haben, im Ringen um all diese Themen.

Hier, mein riesiges und herzliches Dankeschön!

Es ist die Freiheit, welche das Notwendige entdeckt. … Freiheit als Möglichkeitssinn bleibt im Spiel, auch bei den sogenannten harten Tatsachen. Auch im Erkennen, nicht nur im Handeln, ist der Mensch ein Wesen, das immer auch anders kann; nicht nur anders handeln, sondern auch die Dinge anders sehen. Der Mensch lebt in Möglichkeiten. Wirklichkeit konstituiert sich in einem Horizont von Möglichkeit. Das ist Freiheit.**


Gehen 
und
Schreiben
sind Synonyme
Eines dem anderen Metapher
Rhythmus
ist in beiden

“Dass diese Praxis, Gehen und Denken zu der ungeheuersten Nervenanspannung zu machen, nicht längere Zeit ohne Schädigung fortzusetzen ist, hatten wir gedacht und tatsächlich haben wir ja auch die Praxis nicht fortsetzen können, sagt Oehler, Karrer hat daraus die Konsequenzen ziehen müssen”.***


Mit 
Jedem Schritt
Fallen Illusionen und
Überflüssiges weg. Schrittweise zum
Kern

„…Was ein Apfel ist, erfahre ich anhand eines von Cézanne gemalten Apfels anders und vielleicht tiefer als anhand eines realen Apfels, der mir eine Selbstverständlichkeit ist und dem ich deshalb keine Beachtung schenke…“ ****   


Schluss 
Machen heisst 
die Vorstellungen vom Ziel 
mit der Wirklichkeit 
tauschen

Und feiern!

Jeder Weg führt zu einem Ende, zu einer Art Tod. Ein schönes Duo, diese beiden Wörter, Art und Tod.

Gehen ist Kunst.

*Erling Kagge in “GEHEN WEITERGEHEN”, erschienen im Insel Verleg Berlin, 2018.

**Rüdiger Safranski in “*Romantik – Eine deutsche Affaire”, erschienen im Fischer Taschenbuch Verlag, 2009

***Thomas Bernhard in „Gehen“, Suhrkamp Verlag, 1971

****Klaus Merz in „Im Wegschauen sehen“ von Manfred Papst „Der gestillte Blick“, Haymon, 2007