MindWalk 23/32 – Tag 26, in der Nähe von Devesset
Ein Monat sind wir nun schon unterwegs mit ihm. Lesen wir diesmal doch erst, was er schreibt.
Sonntag
Pfingstmontag
Ich hob meinen Kopf und da blitzte mir die Sonne zwischen den schwarzen Tannen ins Gesicht. Ich legte mich wieder und schwupp, sie war weg.
Die Wolken sind da und der Wind trocknet meine Haut. Nicht lange machte ich mein Morgenessen, denn es fror mich. Jetzt ein kleiner Halt, einige Infos in der Gîte d’etape» und natürlich croissants. Sind sind gut, allein der Bäcker hat sich in der Hefe vergriffen, dafür das Salz vergessen. Vielleicht erreiche ich heute noch die nächste Refuge, aber es ist weit (Auf der Verkehrstafel «Le Puy 59»)
Ein Tag mit spezieller Note. Ich fischte an einem Teich und erlebte die gleiche Faszination wie als Bub. Mehrmals sagte ich mir: Das ist das letzte Mal», und doch blieb ich über zwei Stunden. Ich fing eine Forelle, aber zu klein, wie mir schien, und liess sie wieder schwimmen. Jene, die genug gross war, brachte ich nicht an Land. Sie erlöste ich vorher. Seltsam, das Fieber, in das ich geriet – ein Urtrieb.
Als ich aufbrach, kam gleich eine Gruppe lauthals daher. Ich beschloss, zu beschleunigen, gewann Distanz und hörte hinter mir: «Voilà, un vrai pelegrin». Bald hatte mich ein Mann auf seinem Mountainbike eingeholt und fragte mich nach meinem Ziel. – Ich ging mit den Leuten, die meisten höheren Alters – Vogelschutztyp*, aber etwas sportlicher – und sie brachten einen Stab mit, der zur spanischen Grenze reisen wird. Von dort wird er in der Gruppe zu Fuss nach Santiago gebracht, als Zeichen der 90-Jahr-Feier dieses Sport- und Kulturvereins. Vorläufig aber «geht er» noch von Club zu Club.
Ich kam mir manchmal wie im Zoo vor, ich als ein Exotikum, das bestaunt und benieden wird. Froh war ich aber über die Gesellschaft, auch wenn manche nicht meinen Stil hatten. – Hier am See assen wir und von allen bekam ich etwas zugeschoben. Jetzt habe ich mehr als einen Liter Wein im Rucksack – au weia.
In der Gruppe gehen ist anstrengend. Ich verlor andauernd meinen Rhythmus. Bis spätestens Donnerstag will ich in Le Puy sein. Da mache ich dann Blauen.
Was passiert mit dir, wenn du z. B. den obigen Text liest?
Du «kennst» den Schreiber ja inzwischen ein bisschen, hast viel von ihm gelesen und ihn über die Tage und Nächte begleitet. Zu seiner Person und seinen Umständen hast du einiges erzählt bekommen und er hat dir viel berichtet. – Was macht nun der obige Text, der ja in keiner Art ausserordentlich ist, mit dir?
Einerseits liesst du den Text, indem du zu verstehen suchst, was da steht. Aber weiter wirst du zwischen den Zeilen lesen und was ja unumgänglich und auch ganz ok ist, gehörig interpretieren, hineininterpretieren. Als Drittes wirst du ganz eigene, also von seinem Erleben abgekoppelte und unabhängige Erkenntnisse, Spiegelungen, Gedankengänge und Ideenketten haben.
Möglicherweise ist also ein solches Textfeld wie eine Landschaft, durch welches du mit deinen Augen gehst, es durchwanderst. Du triffst auf Bekanntes, auf Interessantes, auf Rätselhaftes und aber auch auf vieles, was du einfach so mitnimmst. Da und dort aber bleibst du stehen und verharrst, schaust zu, staunst, werweisst («werweissen»: schweizerisch für «hin und her raten, brüten, grübeln, knobeln») und lässt dich berühren. – Kann man also ebenso durch einen Text gehen, wie man durch eine Landschaft geht? Kann man in einen Text hineingehen? Oder umgekehrt: Sind Gänge draussen möglich, also in der Landschaft, so dass sie sich adäquat vollziehen, wie wenn man Texte läse, wie man Texte lesen kann?
Und noch weiter: Kann man vielleicht auch schreiben wie gehen?
Es sehen, es spüren, es leben, durch es hindurch gehen – nichts weiter.
Bemerkenswert am obigen Tagebucheintrag scheint unter anderem sicher die Erkenntnis, dass er einerseits grosse Freude an der Gesellschaft hat, sie geniesst und es ihm gut tut, bestaunt zu werden. Die ihm zugesprochene Ehere nimmt er gerne an. Aber er bemerkt auch, dass das «zusammen Gehen» nicht so gut zusammen geht. Zusammen gehen geht zusammen nicht wirklich, erkennt er. Er ist nicht mehr kompatibel. Unterwegs hat er sich Autonomie ergangen, einen Stil, einen Rhythmus und einen Modus. Und dies trennt ihn nun von den Herkömmlichen – die im wahrsten Sinne «dahergekommen» sind.
Er wird zwar als «vrai pèlerin» angesehen, den er wegen der gegangenen Kilometer tatsächlich auch ist. Wenn die «anderen» nun aber eine Verbundenheit zu ihm empfinden, ja gar eine Verwandtschaft, sich gleich fühlen mit ihm, weil auch sie ihren Stock pilgerend zur Grenze und dann nach Compostela bringen werden, so trennt doch etwas Entscheidendes sie von unserem Geher: Sie sind «Rudelwanderer». Und das heisst, sie werden als dieselben nach Hause kommen, als die sie weggegangen sind. Sie sind als Typen, Charaktere, Wesen und Objekte unterwegs und werden als dasselbe wieder zurückkommen. Er aber hat sich solo aufgemacht, alleine. Und wer schon so lange das Land durchwandert, es mit der Seele sucht, das Land, das er selber ist, dir wird… Ja, was denn?
Der wird möglicherweise selber Landschaft. Der ist inzwischen Landschaft.
*In seinem Heimatdorf war er manchmal mit dem Ornithologischen Verein unterwegs, von diesen Ausflügen kennt er den «Vogelschutztypus» 🙂