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MindWalk 23/32 – Tag 25, Libertie

Wortlos weiter? Oder braut sich da eine Mischung zusammen, die erst durch das viele Gehen erfahren werden kann? Erklärungsbedarf?

Erst träumt er nachts erotisch. Und es kommen in seinen Szenerien Personen zusammen, die in seinem realen Leben, das “hinter ihm liegt”, je weder eine zeitliche noch räumliche Berührung hatten. Aber hier, im Traum, in ihm, finden sie zusammen. Jetzt.

Ungefähr am sechsten Gehtag, in der Nähe von Plaffeien, las er doch den Brief von Vivi. Darauf schrieb er: “Ich weiss, dass ich lieben kann… Lange Zeit dachte ich mir, für mich wäre das nicht möglich, nicht mehr möglich.” Und dieses “nicht mehr” bezieht sich auf die eine Figur in seinem heutigen Traum, auf Susanne, die ihn nun unverhofft, nach über zwanzig Tagen Fussmarsch, “einholt”.

Er nimmt es hin, ohne weiteres, ohne irritiert zu sein. Ohne wirr zu tun oder zu werden, schreibt er die üppige Geschichte lakonisch nieder. Das “wirr” entsteht für ihn erst, wie er die Spur seines Traumes nicht mehr richtig erinnern kann.

Vielleicht hat ihn das GEHEN schon so viele Welten passieren lassen – innere wie äussere -, dass ihm solche Traumszenarien nicht sonderlich vorkommen. Bemerkenswert sind sie ihm zwar allemal, sonst schriebe er nicht davon. Aber sie scheinen ihm so ebenbürtig wie die Erfahrungen von starkem Regen, der Genuss eines schlecht gesalzenen Croissants oder wie das Staunen über all die Grüntöne in der Natur und damit einhergehend seinem Ringen, diese Nuancen mit dem Pinsel auf das Blatt zu bringen. Wie kommt das?

Ist von ihm unterwegs so manches “abgefallen”, irgendwo auf dem Weg geblieben, weil es sich nicht mehr als relevant erwies – relevant in Bezug zu all dem, was er jetzt erlebt, was er an sich und mit sich erfuhr und erfährt?

Robert Walser sagt so wunderbar: “Die Natur braucht sich nicht anzustrengen, bedeuten zu sein. Sie ist es.” Entsteht für ihn durch das beständige Gehen in diesem “Resonanz- und Echoraum Natur”, ein neuer Bezug zu sich selbst – zu allem, was an und mit ihm ebenso kernig, elementar und dringlich sein könnte?

Das eine fällt ab und bleibt unterwegs liegen, während anderes in seinem “Rucksack” mit ihm geht und er es mitträgt, all die kommenden Kilometer – bis wohin auch immer

Gewisse Menschen “gehen ihm also nach” und bleiben wichtig über die Zeiten. Nachts melden sie sich, schaffen Furor und provozieren und verführen und erschrecken ihn und raunen zusammen mit Shakespeare ihm zu: “We are such stuff as dreams are made on, and our little life is roundet with a sleep”.***

Sonntag

Heute ist ja Pfingsten – wie man mir sagte.

Ich schlief sehr gut, erwachte nur wenige Male und träumte eine Riesengeschichte am Stück. Kurz gesagt ging es darum, dass ich mit Margrit “Reiser”*, die mit Peter Helm verheiratet war, ins Heu ging und er uns dann entdeckte. Darauf die Tirade der Anschuldigungen, wie diese Neuheit langsam im Dorf herumging. Irgendwie kamen Susanne**, Minna und Tamara noch ins Spiel. Wie fuhren in die Berge, wurden beim Schwarzfahren im Bus ertappt und sprachen über Beziehungen – dann wurde es wirr!

Kein Gram, kein Grübeln, keine Peinlichkeit. Er scheint in einem Zustand zu sein, wo in ihm neue Energien und Gesetze spielen – für ihn normal und stimmig.

Es ist herrlich, leichter Sonnenwind, traumhafte Gegend, krumme Kiefern zwischen gelbem Ginster und irgendwelchem Kraut und ein süsslichwarmer Duft in der Luft.

Gehen kann anscheinend “high” machen. Und langes Gehen lässt einen dann vielleicht noch tiefer gehen, ermöglicht einen Zustand des Luziden und schafft dem Gehenden auch am Tag einen Blick dahin, wo man sonst nur nachts, wenn man Glück hat, tiefblicken kann.

Va plus loin,
va ton chemin,
va plus loin
fais ta route.
 
Sur la route tant de peines,
Tant de joies, tant de haines,
Un chemin pour chanter
Un chemin d'amitié.
 
Tout au long de la route
Nos espoirs et nos doutes;
Un chemin de pleurer,
Un chemin a trouver.
 
Avec Toi, la lumière
Au-delà des frontières;
Un chemin pour aimer
Un chemin liberté.
Eingeklebter Flyer, Gesang

In Boulieu d’Annony war ich in der Messe, Erstkommunionsfeier. Viel Gesang, volles Haus, aber die Hälfte der Leute kaugummikauend, die Kinder zwischen den Bänken spielend und mehr Interesse der Erwachsenen für das Geschrei eines Babys als für den Pfarrer. Dabei wurde einander in den Bänken aber Platz geschaffen und man hielt sich locker und fröhlich. Das Städtchen selber hat einen schönen, alten Teil mit Gässchen und Winkeln.

Die Wolken breiten sich in beängstigender Schnelle aus.

Dies schrieb er eben, bevor er sich nun in “Libertie” zum Schlafen legt. Wie sinnig, der Ortsname…

*Seine ehemalige Geschichtslehrerin

**Seine letzte feste Beziehung

***aus “Der Sturm”, dem letzten Stück von Shakespeare: “Wir sind vom Stoff / Aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben / Beginnt und schliesst ein Schlaf” (Übersetzung: Frank Günther, 2001)