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MindWalk 23/32 – Tag 19, Lucey, Massignieu des Rives via Culoz

Hier noch einige Zeilen zu seinem Schock und wie er vor sechs Jahren erkannte, dass seine Erinnerung ihn trügt:

“Ich muss meiner Erinnerung nachhelfen und lege mal die Karten mit dem Weg von Genf bis nach Le Puy aus.

Als erstes denke ich: Shit, das ist ja noch unglaublich weit bis Le Puy! Es ist nicht eine Karte, sondern es sind deren drei. Und alle im Massstab 1: 100 000! Das heisst, ein Zentimeter auf der Karte entspricht einem Kilometer Fussweg. Und die violette Linie, die meinen Weg markiert, schlängelt sich auf einer Länge von über zwei Metern über diese Kartenblätter.

Ich bin perplex! So viel Weg und ich habe kaum noch Erinnerungen daran! Ich kann es kaum glauben.” 

Er versucht seine Irritation irgendwie greifbar zu machen:

“Eben habe ich den Weg mit einem Draht nachgezeichnet. Und ich bin noch einmal baff: Die Strecke auf der Karte misst mehr denn drei Meter! Ich bin erschüttert. Wirklich. Ich ging da von Genf bis Le Puy mehr denn 300 Kilometer… und eben noch dachte ich, nach Genf seien es noch vier bis höchstens fünf Stationen gewesen bis Le Puy. Ich will nachzählen!

Noch einmal versucht er diese beiden Realitäten, die der Erinnerung und die der Wirklichkeit von damals, miteinander zu konfrontieren:

“Dreizehn Etappen waren es. Ich habe zwölfmal übernachtet. Unglaublich. Die Orte hiessen der Reihe nach Bellgarde, Seyssel, Lucey, St. Didier, Apprieu, la Côte-St-André – in der Nähe von, Château la Chal, Col du Fayet, Libertine – wie sinnig, dann fehlt ein Stück Karte, Devesset – in der Nähe von und dann wohl der “Ginsterberg” bei La Teyssonneire. Da bricht die Aufzeichnung in violett ab und wird mit Bleistift weiter geführt. Kryptische Kreislein begleiten den Weg, den ich anscheinend ging.” Geschrieben am 22. November 2014 

Zudem hier noch der letzte Satz aus dem Wandertagebucheintrag von heute: “Noch etwas: Es hat mir in Culoz fast abgeschaltet, als ich sah, wie weit es noch ist bis Le Puy!” Irgendwie interessant, wie sich gewisse Prozess und Vorgänge anscheinend wiederholen. Anscheinend hatte er damals schon wenig Begriff in Bezug zu gewissen Distanzen ausserhalb der Schweiz…

Montag, am Morgen

Ich sitze an der Rhone, ein Lüftchen geht und manchmal platscht ein Fisch zurück ins Wasser. Hier zu sitzen und zu gehen ist wunderbar. Aber dies musste ich mir zuerst auf der Strasse verdienen, im beissenden Gestank der Dieselmotoren.

Es ist kaum zu fassen, aber es ist schön. Noch keinen Tag musste ich im Regen gehen und die letzte feuchte Nacht konnte ich in einem Bett überschlafen.

In Seyssel habe ich gepinselt und ging danach mit dem Füller darüber. Diese Technik wäre gut, muss ich aber noch um vieles verbessern. Es ist ein schwarzes Bild geworden.

Die Leute in Gignez sind gut. Ich ass mit dem “Meister” Yan Zmorgen und verabschiedete mich bei Eveline – sie erinnert mich an Angel, nur um einiges ist sie impulsiver. Wir hatten das Heu auf der gleichen Bühne – ein herzlicher Abschied. Darf nun weiter nach Culoz – und kann bald die Karte wechseln.

Am Abend

Sehr günstig, es lohnt sich durchzuhalten und daran zu glauben, dass ich etwas finde. – Nach dem langen Marsch – fast 3 Stunden von Culoz nach Gezeis (oder sowas) kam ich ins Gewitter, wurde nass – habe ein Rebhuhn aufgescheucht, es sass mitten im hochbewachsenen Weg – und ging trotzdem im Hemd weiter. Kam zu einem Schloss – sehr schön, mit Hund – wir verstanden uns gut, er wedelte und ich plapperte in gutem Ton, um sein Bellen nicht in Beissen umzustimmen. Leider öffnete niemand ein Fenster. Wäre ein Mann erschienen, hätte ich gesagt: “Bonsoir, monsieur le roi. Moi, je suis le grenouille! Peux-je parler avec la princesse?” Aber das kann ich noch nachholen, Schlösser gibt es ja viele. In einer Bar trank ich Milch und einen Ricard – dies sei besser gegen den Durst, rieten mir die Männer, die wie Flamingos einbeinig an der Theke standen. Der “Laden” wird von zwei Schwulen geführt, wie mir schien. Da hätte ich auch übernachten können, denn zugleich war es Restaurant und Auberge. – Und jetzt liege ich auf einem alten Bett unter einer Veranda, meine Kleider, die nassen, sind an einer Wäscheleine aufgehängt und ich höre den Regen in den nächtlichen Wald trommeln. Im Dunst sehe ich die hohen Savoyen vor dem helleren Abendhimmel und in mir ist eine gesunde Müdigkeit. Jetzt essen – und was will ich noch mehr?

PS.: Am Morgen wird mich die Sonne wecken, falls sie durchblicken mag, denn meine Sicht geht nach Osten.

Noch etwas: Es hat mir in Culoz fast abgeschaltet, als ich sah, wie weit es noch ist bis Le Puy!

Die drei 1 : 100 000 Kartenblätter
mit dem nachskizzierten Weg von Genf bis kurz vor Le Puy