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MindWalk 23/32 – Tag 18, Cruz, Seyssel

Hier also zu den “vier Tagen bis Le Puy”:

Als er sich vor sechs Jahren für ein Schreiben der ihm noch verbleibenden Erinnerungen hinsetzte – eben ohne jegliche Stütze durch Tagebücher oder Landkarten -, dachte er, er hätte die Wegstrecke zwischen Genf und Le Puy in ungefähr vier Tagen zurückgelegt. In Wahrheit aber war er geschlagene zwei Wochen unterwegs.

Waren denn die ganzen Erinnerungen weg? – Ja, viele. Erst heute kommen in ihm durch die Tagebucheinträge und Skizzen wieder Bilder, Gerüche, Töne, Geschmäcker, Gefühle und Stimmungen auf, und gewisse Szenen werden für ihn wieder “greifbar”. Andere Begebenheiten oder Begegnungen aber bleiben trotz der Einträge anekdotisch, so, als hätte sie jemand anderes erlebt; sie scheinen für das eigene Ich verloren im Zeitenfluss der letzten 32 Jahre.

Ein weiterer Umstand zeigte sich zudem noch: Gewisse Erinnerungen sind zwar “noch da gewesen”, aber sie liessen sie zeitlich und örtlich nicht mehr situieren. Weil ihm die geografischen Verhältnisse in Frankreich nicht wirklich geläufig sind, und weil es während dem Gehen keine Chronologie der Personen oder Orte gab – da war täglich Aufbrechen, Gehen und Ankommen, und dies alle Tage – “verschwimmen ihm die Erinnerungen” und trudeln raum- und zeitlos durcheinander. Er kann die Ereignisse in ihrer Reihenfolge nicht mehr einordnen. – So erinnerte er sich zum Beispiel zwar noch an jene Übernachtung in der “Halte St. Martin”, an diese abgefahrene Begegnung mit den beiden Typen, als wäre er in Samuel Becketts “Warten auf Godot” geplumpst – aber er meinte zu wissen, dass diese Begegnung erst auf einer Wegstrecke nach Le Puy stattgefunden habe. Das Tagebuch erzählt aber etwas anderes…

Tag 11/2, Craz en Michaille

Sonntag, am Morgen

Heute wird es sehr heiss. Gestern tropfte mir der Schweiss zum ersten Mal in die Brillengläser und lief mir in die Augen. Das wird sich heute wohl wiederholen.

Habe schlecht geschlafen und bin viele Male erwacht. Heute Morgen waren meine Augen verklebt und der Atem ging schwer.  Nichts desto Trotz – und mit Freude – auf in Richtung Celoz.

Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat

Dieser Psalm begegnete mir gestern zum zweiten Mal – in der Kirche. Das erste Mal wars in der Schweiz beim Parkhotel in Gunten. – Die Messe gestern war sehr sympathisch – kurz, witziger Pfarrer, schönes Licht, guter Gesang – während der Kommunion Trompetenkonzert ab Kassetten!

Sonntag Nachmittag

All hier Bier!

Dieses kleine Dorf – Craz en Michaille – von nur 250 Einwohnern, ist mit Lautsprechern gespickt, daraus tönen Schlager der 60-Jahre, z.B. „In Peru“, die Buden sind improvisiert: Flaschenschiessen mit Boulle – ein schräger Dachkännel bringt die Kugel zum Schützen zurück, das Glücksrad, alles lebendig improvisiert, z. B. sind die Stände aus rostigen Baugerüsten. 

Ich bin bei guten Leuten angelangt und konnte meine Sonntagsdusche geniessen. Erfrischt durch den ganzen Tageslauf heb ich mich morgen wieder auf die Sohle.

In Seyssel nach einer dreistündigen Non-Stop-Tour hielt ich an und beschloss, zu bleiben, da die Stadt sehr schön ist und es zu regnen begann. Vor einem Bistro lernte ich Guy und Eveline kennen, da ich unter ihrem Sonnenschirm vor den grossen Tropfen flüchtete. Schon vorher hatten wir uns zugelächelt und ich denke, unsere Antennen funkten auf der gleichen Welle – alle waren oder sind bereit, ihr Leben zu ändern, neue Wege zu gehen – innert Kürze sprachen wir auch darüber.

Ein sympathischer Haushalt, viel Musik – Klavier und Gitarre – und gutes Essen. Dazu rege – erregte – Diskussionen über das spanische „Verbrechen“ in Südamerika und übers Militär. Ich bin erstaunt, wie interessiert und informiert die Leute hier über den Jakobsweg sind. In der Deutschschweiz wäre dies so nie anzutreffen.

Das Dorffest in Craz war ebenfalls erfrischend. Ich ass da das obligate Menu – 65 Franc – und unterhielt mich mit einem Canada-Amerika-Franzosen. Es entwickelte sich ein Gespräch über die Abschaffung der Grenzen, infolge der heutigen Situation. Nach der Folkloredarbietung – ähnelte sehr dem Schweizer Verhalten, relativ steif, aber freundlich – verliess ich das Dörfchen, hörte die Lautsprechermusik immer ferner erklingen, ging lange auf der Hauptstrasse, bis ich zur Rhône hinuntersteigen konnte, da nach Wasser fragte und an meinem Ziel anlangte. Während meinen Schritten sah ich in der Region Bellegarde lange schon die Regenschleier vom Himmel hängen.

Welch guter Entscheid, heute zu gehen und welch gutes Verfehlen des Weges zum GR 9 – ich durfte wieder einmal “la france-sauvage” durchkämpfen!!