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MindWalk 23/32 – Tag 17, Grenzübertritt

Er nimmt die dritte Woche in Angriff. Weitergehen! – Heute vor sechs Jahren, also bevor er sein Tagebuch unter dem Dach und wieder aus der Schachtel hervorholte, schrieb er erinnernd an diesen Grenzübertritt die folgende Zeilen:

“In meiner Erinnerung habe ich – jetzt nach 26 Jahren – noch ein klares Bild vom Grenzübertritt. Den Zoll überquerte ich bei Chancy, vollkommen unspektakulär. Niemand wollte meinen Pass sehen, keiner fragte, wohin ich ginge, nicht einer argwöhnte, was ich da in meinem Rucksack trüge und wohin ich mit all dem ginge. Ich wanderte einfach hinüber, zu Fuss von der Schweiz nach Frankreich, an einem etwas erbärmlichen Zollhäuschen vorbei. So hatte ich mir das nicht vorgestellt… Ich war ernüchtert, dass mich niemand kontrollierte. Dies hätte mir, – so erinnere ich mich jedenfalls -, das Gefühl gegeben, wirklich die Grenze übertreten zu haben. Aber keine Nase war zu sehen. Ich spazierte einfach über den Zoll! – Das wäre ein Markstein gewesen: Im Austausch mit diesem uniformierten Menschen hätte er oder sie seines oder ihres Amtes gewaltet und damit beglaubigt, dass ich nun wirklich ein neues Land betrete. Dieser Akt hätte mich dessen auch gewürdig, unterwegs zu sein. Man hätte mich gefragt, woher ich komme und meine Antwort staunend mit einem “Tatsächlich!?” quittiert. Ich aber erinnere eben einzig dieses trostlose Zollhaus, eine langgezogene Kurve oder vielleicht auch eine Brücke. Da mir die Passkontrolle fehlte, suchte ich nach expliziten Zeichen, die mir beweisen würden, dass ich nicht mehr in der Schweiz bin. Die Art der Strom- oder Telefonleitungsführung war mir dann das erste Signal: Masten aus Holz, mit einem unglaublichen Gewirr und Geknüpfe an Kabeln und Drähten, die sich mehr oder minder vertikal stehend über das Land hinzogen, waren mir Indiz genug. Luftschnüre von da kommend, dahin gehend, immer den nächsten noch krummeren Masten suchend, dies konnte nicht mehr die Schweiz sein.

Sonst aber bleibt mir für den gesamten Weg zwischen Genf und Le Puy wenig an Erinnerung. Ich denke, diese circa vier Tagesetappen waren vielleicht auch nicht so spannend. Einfach Leere, keine weitere Erinnerungen, nix mehr bis kurz vor Le Puy: Ausser jene Nacht auf dem Ginsterberg! Wow! Die aber leuchtet förmlich wieder vor mir auf in mir… Aber sonst: Nichts! Einfach Leere.” Erinnert am 18./21 November 2014 

Wenn wir nun den Text aus dem Tagebuch von 1988 lesen, dann kommen Fragen zum Thema “Erinnern” auf. Und das ist gut so…

Des weiteren werden wir morgen noch erfahren, was es mit den “vier Tagesetappen bis Le Puy” auf sich hat – dies ebenso zum Thema “Erinnerung”.

Samstag

Die Grenze überschritten und wohlbehalten, aber mit brennenden Füsse in Bellegarde angelangt. Das französische Wandern habe ich schon kennenglernt – entweder Strasse, oder ein Wagnis und dann landet man meistens im Dschungel. Ich musste sogar einmal den Rucksack von Hand schleifen, damit ich durchs Weissdornunterholz mochte. Eine 100’000er Karte ist eben kein Wanderplänchen. 

Für morgen habe ich – zumindest heute noch – Lust zum Gehen. Vielleicht verbringe ich so meinen Sonntag arbeitend. 

Auf Fort l’Ecluse zu schlafen war nichts, weil der Weg da hinauf sehr lange ist und ich kein Getränk und kaum Esswaren – ausser dem stinkenden Käse – bei mir hatte. Jetzt jedoch konnte ich am Bahnhof noch Geld wechseln. Und dann noch einkaufen. Am Zoll schrieb ich noch Karten an alle nächsten Verwandten.

Gestern in Bernex: Gewitter und danach sicher eine lange Stunde einen Schlafplatz gesucht. Habe dann einen Neubau gefunden. Gut, aber gipsig geschlafen.

Vielleicht habe ich einen weiteren Deckel abgehoben, denn heute, je älter der Tag war, desto besser fühlte ich mich. Meine Gedanken kreisten meist um das Thema „Freiheit – die Freiheit, die ich meine“ – als Name für ein Gefühl, das in bestimmten Situationen entstehen kann. Ich bin auch am Hirnen, wie ich spinnen lernen kann, d.h. einen Faden aufnehmen und an ihm weiterdenken, dass daraus eine brauchbare Kordel wird, mit derer Vielen man sich endlich ein Gewand stricken kann. Meiste denke ich im Kreis, zupfe hier etwas Wolle und drehe da ein bisschen herum…. Hoffentlich finde ich einen guten Platz zum Schlafen.

Foto vom Aufgang zum Estrich,
wo die Schachtel mit den Tagebüchern
über die Jahrzehnte lagerte