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MindWalk 23/32 – Tag 14, Tag Villar sous Yens, später Rolle

Heute zeichnet er zuerst Störche, später einen Soldaten. Erst hört er zu, wie die Störche klappern und auf einem Bein balancieren können, später dann sieht er Menschen in militärischer Ordnung, in hörigem Gehabe und steifer Feierlichkeit. Dies provoziert ihn. Der Individualist trifft also auf das Genormte, auf das Uniformierte, auf das Hierarchische. Das jugendliche Ideal der Gewaltlosigkeit prallt auf das staatliche Manifest, eine Nation müsse militärisch zu verteidigen sein. Der Gehende fühlt sich provoziert, was ihn selber zum Provokateur werden lässt – der kleine Wanderer gegen das Bataillon. Und so pfeift er sich hinein in die eigentümliche Hörigkeit dieser militärischen Feier. Er steht da und trällert ein Liedchen: «Monsieur le Président, je vous fais une lettre, que vous lirez peut-être, si vous avez le temps». Dieses Chanson von Boris Vian kennt er sowohl im französischen Original wie auch in der schönen Mundartübersetzung von Franz Hohler. Von der Rede, die da aus schlecht gepegelten Lautsprechern hallt, versteht er wohl wenig. Aber er erkennt am Ton, lotet im Gesamtbild aus, fokussiert in den einzelnen Gestalten und durch ihre Ausstrahlung, dass da – aus seiner Sicht – viel nicht stimmt. Und er stellt seine mickrige Position dagegen: Wie er einfach da an einen Baum lehnt, mit seinem Sack am Rücken und dem Stock in der Hand, konterkariert er mit seinem Pfeifen die Ehrung des Brigadiers oder Divisionärs. 

Zudem ist jener kurze Kontakt spannend – vielleicht ist er ein Oberstleutnant -, der den Gehenden mit seinem Augenzwinkern, mit Respekt und in seiner sympathischen Art anerkennt, ihm aber mit einem Schmunzeln auch zu verstehen gibt, dass sich Haltungen und Meinungen ändern können und, dass dieses Pfeifen ja vielleicht auch eine Art von Kampf sein könnte…   

An diese gesamte Szenerie meint sich der Gehende heute noch erinnern zu können und glaubt zu wissen, wo dieser Festakt samt Militärmusik stattfand. Er behauptet, den Platz in Rolle innerlich noch sehen zu können, samt dem historischen Gebäude, den Bäumen – es könnten Platanen sein – und dem nahen See. Er denkt, er würde ihn gar heute wieder finden, diesen Platz, obwohl er nie mehr da war. – Und dann aber, beim vierten Nachsinnen, taucht eine andere Erinnerung auf, ein Erlebnis, das er Jahre später machte, als er schon Vater eines Mädchens war und zusammen mit seiner Partnerin in Rolle übernachtete. Bei einem Abendspaziergang kommt er zu diesen Platz und erinnert sich an die Begegnung mit den Militärs.

Ein Teil der Erinnerung wurde also zwischenzeitlich aufgefrischt – und heute, mit diesem Tagebucheintrag, ein weiters Mal aufbereitet.   

Tag 14, Villar sous Yens, am Mittag

Störche

Junge im Nest, klappern ebenfalls

Riesen-Spannbreite, ca. 160 cm, Schnabel 25 cm

Sie putzen sich feinsäuberlich. Dass sie sich nicht stossen, mit ihren spitzen Klapperwaffen!

Gute Balance

Rolle, am Abend

Das Militärfestchen, irgendeine Abdankung für einen Nundelmann*, sitzt mir noch in den Gliedern. Ich fand es sehr peinlich – so leblos, so freudlos, tot. Die guten Herren brachte ich aus der Fassung, weil ich friedlich an einen Baum angelehnt pfiff (le déserteur). Da schickten sie den Polizisten und sagten ihm, er soll da den Mann nach der Identitätskarte fragen. „Der Mann“ aber gab erst nur den Pilgerausweis. 

Das genügte nicht. Nach dem rechten Fetzen (Anmerkung: dem Zeigen der Identitätskarte, die aus Hartpapier war) riet er, die „célebration“ nicht zu stören, sonst „stehe es nachher da drin“. Als ich nachfragte, verbesserte er sich und meinte, sonst müsse er mich vom Platz schicken.

Witzig, einer, der vorne stand, ein Dreinudelmann*, kannte die Melodie und kam nachher zu mir und lachte. Er meinte, diese Epoche habe er auch durchgemacht, jetzt aber stehe er eben wo anderes – leider verstand ich nicht seine ganzen Ausführungen. Der “Bekränzte“ war der hässlichste – steif, eiskalt – vielleicht muss man so sein, wenn man täglich mit dem Tod zusammenarbeitet. Aber auch die Leutnants – alles schreckliche Typen, vollgefressen oder spindeldürr, mit einem Gang wie Bewegungsgestörte – brrr. – Bei der Militärmusik ist einer dabei, der Flötist, ellenlag. Er gibt ein köstliches Bild ab.

*Mit „Nudelmann“ oder „Dreinudelmann“ meint er wohl einen Oberst, der „Bekränzte* mag Brigadier oder Divisionär sein

“Soldat” – Skizze aus dem Tagebuch