MindWalk 23/32 – Tag 11/2, Rue
Alleine Reisen ist eine Herausforderung. Was man damit aber gewinnt, ist eine unverfälschte Wahrnehmung seiner selbst. Gelingt etwas, hat es meist mit einem selber zu tun, wird es schwer und zäh, kann man niemand andres dafür verantwortlich machen, als sich selber oder die Situation, in die man sich eigenmächtig hineinmanövriert hat. Und wenn jemand schon die „Freiheit“ untersuchen will, was der Geher anscheinend mit seinem „Longwalk“ tut, dann macht es Sinn, alleine loszuziehen.
Jetzt aber taucht dieser Hund auf und bietet ihm seine Freundschaft an. Nicht nur das: Er ist ihm gar etwas wie das tierische Ebenbild seiner selbst, das ausgelebte Gefühl seiner eigenen Reise- und Entdeckerlust. Dieses zottige Spring-ins-Feld-Wesen lebt ihm unverblümt seine eigenen Freude vor am Aufbrechen, Unterwegssein, Entdecken und Streunen. – Schlägt er dieses Angebot nun aus oder schliesst er mit dem Zottelwesen eine Reisepartnerschaft? Welcher Entscheid schafft ihm die grössere Plattform für seine Freiheit? Denn das Alleinesein alleine bringt noch keine Freiheit – im Gegenteil. Das weiss er.
Wie er zum Schluss in seinem Elend sitzt, singt aus dem Radio Renaud Séchand. Vivi machte ihn mit diesem französischen Rockbarden bekannt. Seither liebt er seine engagierten, aufmüpfigen, robusten und liebevollen Songs, trotz des schwer verständlichen Patois. Und wenn er ihn hört, denkt er unweigerlich auch an sie – an Vivi. – Welches Lied wurde wohl gespielt – “dès le vent soufflera”?
Tag 11/2, Rue, gegen Abend
Bei Edgar und Melinda bin ich einquartiert und werde im Schulzimmer schlafen. Sie beide sind sehr nett. Er ist gehetzt, nervös und immer unruhig, so dass er beim Autofahren stets zur Handbremse greift, obwohl er sich schon zehnmal versichert hat, dass er sie lockerte. Er ist Lehrer, wohnt schon seit 10 Jahren im Schulhaus und ist Vorsteher der Kirchenpflege, erteilt Kurse für Laienkleriker und versucht seine Taten dahinzubringen, wo seine Worte gross sprechen. Ich hoffe, dass er nicht findet, die Arbeit für die nächsten zehn Jahre sei getan, indem er mich aufnimmt. Das ist aber nicht meine Sache – ich bin ihm dankbar, regnet es doch draussen Bindfäden und der Hund ist nach wie vor bei mir.
Ich weiss nicht, ob ich ihn mitnehmen soll. Obwohl ich zweimal und Edgar einmal telefoniert haben, konnten wir die „Chefs“ nicht erreichen. Das Tier hat einen guten Charakter und ist natürlich. Daher passt er mir gut. Dennoch wird er mir meine Freiheit einschränken, und darob fürchte ich mich – er braucht Essen, er muss schlafen, er hat einen Rhythmus und fordert meine Aufmerksamkeit. Wenn ich ihn geschenkt bekomme, gut. Aber vorerst versuche ich nochmals, zu telefonieren.
Zwei Stunden später, in der Dorfkneipe
Leider habe ich telefoniert und man kommt ihn holen. Ich mag ihn sehr gut und hätte ihn doch gern bei mir. Anscheinend würde es ihm auch gefallen, denn sonst wäre er nicht mitgekommen.
H. A. Sigg hat gute Bilder gemalt, „Fluss im Mondschein“
Eine weitere halbe Stunde später
Sie hat ihn geholt – eine schöne Frau! Und ich habe Tränen in den Augen. Es schmerzt, obwohl der Hund und ich uns erst einen halben Tag kennen. Hoffentlich hat er es gut. So lebendig wie er war. Er juckte auf, wenn ich meinen Sack packte und tänzelte um mich herum
Augustine, heisst sie. Der Hund ist eine Hündin. Und zum Schluss drückte sie mir nochmals die Schnauze auf die Schenkel, dazu den treuherzigen Blick… War es wohl gut?
Die Frau meinte, ihr Herr hätte Selbstmord gemacht, wenn er Augustine nicht mehr hätte. Ob das wohl wahr ist? – Jetzt kann ich die zwei Kilo Fleisch, die mir der Metzger gegeben hat, wegwerfen. Gut, der Hund mochte es sowieso nicht.
Gram, Gram! Tut gut, Renaud singt hier in der Beiz und ich habe geschrieben – dem Besitzer des Hundes, an Tinu und Adriana und an Annrea. Bin gespannt, wie Annrea reagiert, denn ich fragte sie nach einem ihrer Tagebücher.